Die Wetterfahne auf dem Kirchturm zu Thiersheim

Eine alte halbverklungene Sage

In dem an der uralten Heerstraße von Nürnberg nach Eger gelegenen Städtchen Thiersheim erhebt sich inmitten der dichtgedrängten altertümlichen Häuser mit ihren winzigen Fenstern, hohen spitzen Giebeln und heimlichtrauten Winkeln ein altes schlichtes Kirchlein. So schlicht und einfach aber sich dieses Gotteshaus dem flüchtigen Auge des Wanderers zeigt, so schmuckvoll ist sein Inneres und so eigentümlich und beachtenswert ist seine Bauart, Es ist nicht nur eine der ehrwürdigsten, sondern auch eine der schönsten Kirchen des Sechsämterlandes und noch weit darüber hinaus. Und nicht minder rühmenswert ist der Turm dieser Kirche. Böse Mäuler behaupten, er sei schief. Es soll aber nur von weitem so aussehen und soll seinen Grund in der seltsamen Bauweise haben. Wie dem auch sei, schon etliche Jahrhunderte sind vorüber gerauscht, seitdem er wie ein treuer Wächter aus dem Städt-

lein aufragt. Wilde Zeiten hat er schon gesehen. Gar oft sind schon böse Rauchschwaden um seinen Helm geflattert. Und als einst feindliche Kriegsvölker vor Thiersheim lagen und ihr Geschütz auf den Ort richteten, bekam auch der Kirchturm etwas ab, Die heute noch sichtbaren Löcher in seiner Südseite sind ihm als Andenken daran geblieben.

Um den Kirchturm von Thiensheim rankt sich aber auch eine alte halbverklungene Sage. Als die Kirche einst gebaut wurde, befand sich unter den Werkleuten ein betagter in Ehren ergrauter Schieferdeckermeister und dessen Sohn, ein blühender Jüngling. Sie waren zwei tüchtige Handwerker und kannten ihr Fach, so daß sie ihre gefahrvolle Arbeit bald vollbracht hatten. Als Krönung des Werkes aber und als Zeichen der Vollendung des Baues sollte auf der äußersten Turmspitze eine Wetterfahne aufgerichtet werden. Der goldlockige, in der Fülle seiner Jugend stehende Sohn des Schieferdeckermeisters war zu diesem letzten schwierigen Stück Arbeit ausersehen. An einem lauen Sommerabend, der einem heißen Tag gefolgt war, sollte sie getan werden. Die ganze Gemeinde hatte sich um das Gotteshaus versammelt, um Zeuge dieses Wagestücks zu sein. Dann klomm der Jüngling an dem steilen Turmdach empor. Fast schien es, als sei es seinem sehnigen, gewandten Körper ein leichtes Spiel. Atemlos, mit bangen Blicken folgte unten die harrende Menge den Bewegungen des beherzten Knaben. Auch der alte Meister war darunter. Auch sein Auge hing unverwandt an dem Emporklimmenden. Und sein Vaterherz schlug zwischen Hoffen und Bangen um das Leben seines Kindes, dem er noch vor wenigen Minuten Mut, zu dieser kühnen Tat zugesprochen hatte. Da war es, als ob die Stille über dem Platz noch drückender wurde. Der Jüngling war oben angelangt. Das Werk konnte beginnen. Einen kurzen Blick warf er hinter sich, dann hob er die mitgeführte eiserne Fahne empor, um sie in die Öffnung auf der höchsten Turmspitze einzufügen und zu befestigen. Da – ihm wars auf einmal, als ob der Turm zu schwanken beginne, wie ein Nebel legte es sich um seine Augen, er konnte die Öffnung für die Fahne nicht mehr genau erkennen. „Vater“, rief er hinab, „in welches Loch soll ich sie stecken?“ Da packte den alten, ergrauten Meister eisiges Entsetzen. Es war ihm schreckliche Gewißheit, daß sein Kind vom Schwindel ergriffen ist, denn es war ja nur ein Loch droben offen gelassen. Mit weher Stimme rief er hinauf: „Gott sei dir gnädig, mein Sohn, du bist verloren!“ Und kaum waren diese Worte verhallt, da plötzlich griff der Jüngling taumelnd ins Leere und – ein einziger markerschüttenmder Schrei gellte aus Hunderten von Kehlen über den Platz – stürzte auch schon hintenüber hinab in die grausige Tiefe. Vor den Füßen des Meisters, seines Vaters, dem er alle Hoffnung und alles Glück war, blieb der zerschmetterte Leib des Jünglings liegen. Und vom Schmerz überwältigt, brach der Greis neben der Leiche zusammen. –

Das ist lange, sehr lange her. Die Sage hat ihre Schleier dar-umgewoben. Der Turm hat seine Wetterfahne erhalten. Sie treibt heute noch in luftiger Höhe ihr leichtes, lustiges Spiel mit den Winden, aber fast niemand, der einmal flüchtig zu ihr aufschaut, denkt mehr an jenes traurige Geschehnis.

(G.A. Maisen, Thierstein. Aus: der Erzähler vom Selb- und Egertal, 1931, Nr. 14)

Text: Dr. Friedrich Singer – Sechsämterland, Ausgabe 939 / Foto: Margit Hofmann, Thiersheim

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