Auf Urlaubsreisen ist es mir eine liebe Aufgabe, da und dort in den Städten und Ortschaften die einheimischen Straßennamen zu studieren, um auf diesem Weg Einblick in die örtlichen Verhältnisse zu gewinnen. Da kann man in mancher Stadt an Hand der Straßennamen ein ganzes Bild ihrer historischen Vergangenheit rekonstruieren. Anderwärts wieder hat man den Eindruck, daß die Straßen rein schablonenhaft getauft wurden. Häufig tritt heutzutage die Auffassung hervor, als seien die Straßennamen bloß dazu da, die Namen „berühmter Männer“ zu verewigen. Daß es noch ganz andere Rücksichten geben kann, die bei der Schaffung von Straßennamen ins Auge gefaßt werden müssen, scheint immer mehr in Vergessenheit zu geraten. In unseren Heimatorten wird jetzt überall viel gebaut, neue Straßen und Plätze entstehen. Da sollten sich die Stadt- und Gemeinderäte erst einige Gedanken machen, bevor sie zur Taufe ihrer neuen Straßen schreiten.
Straßennamen sollen wie alle Namen so kurz wie möglich sein. Die natürliche Straßenbenennung ist zwar mitunter nüchtern, aber nicht nur die nächstliegende, sondern auch die dem Verkehr dienlichste. Natürliche Straßennamen werden vom Gedächtnis am leichtesten aufgenommen und erleichtern das Zurechtfinden in doppelter Hinsicht: wer die Bahnhofstraße weiß, kann den Weg zum Bahnhof nicht gut verfehlen, und wer den Bahnhof weiß, kann sich auch denken, wo er die Bahnhofstraße zu suchen hat.
„Geschichtliche“ Straßennamen sind jene, die einstmals natürliche waren, es aber heute nicht mehr sind, weil der seinerzeitige Anlaß ihrer Entstehung im Laufe der Zeit weggefallen ist. Steht am Hammerweg kein Hammerwerk mehr, so wird „Hammerweg“ aus einem natürlichen zu einem geschichtlichen Straßennamen. Zu den geschichtlichen gehören vor allem die häufigen Straßennamen, die an Gebäudlichkeiten (Stadttore, Rathaus, Brauhaus etc.) erinnern, die früher an der Straße standen, jetzt aber verschwunden sind. Auch die Überbleibsel einstiger Flurnamen wie Anger, Graben, Leite sind hierher zu rechnen; ferner die von ehemaligen Bewohnern herrührenden Namen wie z.B. die Handwerkergassen (Färber-, Leineweber-, Badgasse).
Nur Notbehelf sollten sein die „ehrenden“ Straßennamen, soweit sie die Namen von Leuten oder Männern tragen, mit denen der Ort eigentlich herzlich wenig zu tun hatte, Man könnte sie auch „beziehungslose“ Straßennamen nennen. Hier ist meist noch am leichtesten der Ansatzpunkt gegeben, wie sich Straßenbenennungen in den Dienst der Heimatpflege stellen lassen, wenn nämlich die Namen einheimisch bedeutsamer Männer verwendet werden. Heimatpflege ist nötig, heute mehr als je, denn mächtige Kräfte sind am Werke, unser Volk zu entwurzeln und unsere Heimat äußerer Verwüstung und geistiger Verarmung und Verödung zuzuführen. Eine Hochflut von Ausländerei überschwemmt unser Vaterland. Ein Sturm der Gleichmacherei braust über die deutschen Lande.
Der Heimatpflege dient man nicht durch Umbenennungen – zu denen selten ein dringender Anlaß besteht, – sondern durch Erhaltung der alten Straßennamen und durch Besinnung auf altes Kulturgut bei der Namensgebung neuer Straßen. Wenn neue Wohngebiete erschlossen werden, so lassen sich oft die vorhandenen Flurnamen für die Straßenbenennung ausnützen und dadurch vor dem Verfall bewahren. So könnte man in Arzberg beispielsweise im Gebiete der Siedlung an eine Weißensteinstraße, an eine Hochgerichtstraße denken. In den neuen Schirndinger Wohnvierteln rechts und links der Waldsassener Straße wäre eine Bergwerksstraße fällig, weil dort bis ins 19. Jahrhundert herein Eisenbergwerke standen. Ein geschichtlich-ehrender Arzberger könnte zur Erinnerung an die heldenhafte Verteidigung von 1504 eine Nikolaus-Unruh-Straße sein. Über eine South-Bend-Straße zum Gedächtnis an die vielen nach Amerika ausgewanderten Arzberger ließe sich diskutieren. Man kann die Frage aufwerfen, ob auch der heimischen Mundart bei der Straßenbenennung Rechnung getragen werden soll. Soweit es sich um Erhaltung mundartlicher Ausdrücke handelt, die das Neuhochdeutsche nicht mehr kennnt, ist die Frage unbedingt zu bejahen.
Noch vieles ließe sich über die Frage der Heimatpflege bei Straßenbenennungen sagen. Für heute möge es genügen, unseren Stadt- und Gemeindevätern wenigstens eines ans Herz zu legen: Unser altes Sprachgut in den Straßennamen (mögen es nun alte Flurnamen sein, Mundartwörter, geschichtliche oder dem Volkswitz entstammende Namen oder auch Wörter, deren Herkunft noch gar nicht völlig geklärt ist) zu erhalten und bei der Benennung neuer Straßen in erster Linie darauf Bezug zu nehmen. Das Volksgut, das in den alten Namen steckt, ist durch Änderungen der Zeitverhältnisse dem Verfalle geweiht; erhalten wir es, solange wir können!
(Anm.d.Red: man beachte das Entstehungsjahr des Textes. Es war die Zeit in der die meisten Wohnbaugebiete entstanden. Einige gedachte Namen haben dabei auch in der Realität Eingang gefunden.)
Text: Dr. F. W. Singer, „Sechsämter Land“ Beilage der Sechsämter Neuesten Nachrichten, Jahrgang 3, Nummer 8, 24. Juli 1952