Die Not unter den Webern im Winter 1876/77

Oder: Amerika, das gelobte Land

„Nichts Besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei, wenn hinten weit, in der Türkei, die Völker aufeinanderschlagen … .

Dann stand der Herr Stadtbürger, angenehm durchgruselt, am Fenster, trank sein Gläschen aus, und segnete den Frieden, dessen er sich erfreuen durfte. Die zehnköpfige Familie aber des Arzberger Hauswebers und die Weber auf (den Dörfern ringsum empfanden den Krieg auf der Türkei von einer anderen Seite. Von dem Tage an, im Herbst 1876, wo die erste beunruhigende Nachricht über Spannungen zwischen Petersburg und Konstantinopel eingelaufen war, hatten die Fabrikanten ihre Aufträge an die Hausweber kleiner und kleiner werden lassen. Die Webwaren aus unserem Gebiet gingen damals zu einem großen Teile nach dem Balkan, nach Persien und noch weiter. Wenn aber Krieg war dort unten, dann wurden auch noch von einer Ablieferung zur andern die Arbeitslöhne für die fertigen Stoffe und Tücher verringert, weil der Fabrikant ein höheres Risiko tragen mußte als vordem. Die arbeitslos gewordenen Weber, die freilich von den Ursachen und Gründen für das Aufeinanderschlagen der Völker, dahinten weit in der Türkei, nichts begriffen, spürten dennoch am ersten die Wirkung. Es gab weder Erwerbslosenunterstützung noch andere Arbeitsmöglichkeiten, außer beim Bau der Fichtelgebirgseisenbahn. Aber dazu konnte man viele Weber nicht gebrauchen, weil sie bereits zu sehr entkräftet waren. …

Eine „Übersicht über diejenigen Weber in Arzberg, welche für Fabrikanten arbeiten“ vom 25.1.1868 nennt 37 Hausweber, welche an 45 Webstühlen für die Fabrikanten Joh. Buchka in Arzberg, Joh. Mennel in Arzberg, Sandner und Gebhardt in Selb, Brodmerkel in Brand, Pöhlmann in. Redwitz und Benker in Dörflas tätig waren. Am 1.2.1877 gab es in Arzberg 40 Hausweber mit 37 Webstühlen; davon arbeiteten 7 selbständig auf eigene Rechnung, 26 lieferten an Fabrikanten, hatten sich zum Eisenbahnbau begeben. 18 dieser Weber waren ohne jeglichen Haus- und Grundbesitz, die anderen hatten ein kleines Haus oder bis zu 3 Tagwerk Felder. Ihre Produktion erstreckte sich auf Kleiderstoffe, Baumwolltuche, Leinwand, Barchent, Futterzeuche, Fußteppiche. Wöchentlich konnten bei voller Auslastung von einem Weber rund 40 Meter Ware hergestellt werden; die jährliche Arbeitsleistung pro Webstuhl wurde auf 1600 Meter veranschlagt. 1878 waren noch 26 Webstühle in Arzberg in Betrieb, 1879 nur mehr 20. Der durchschnittliche Wochenlohn eines Hauswebers betrug 1877/78 9 Mark, 1879 nicht mehr als 8,50 Mark.

Am 21.2.1877 richteten 13 Arzberger Weber ein Bittgesuch um Arbeit und Unterstützung an die Regierung von Oberfranken, in welchem es heißt: „Wie viele unserer Genossen im Kreise Oberfranken sehen leider auch die treugehorsamst Unterzeichneten sich veranlaßt, eine hohe kgl. Regierung um Linderung in ihrer Noth anzugehen. Schon längere Zeit sind wir in die Krisis der Geschäftsstockung hineingezogen und nur die Menschenfreundlichkeit einiger wohlhabender Männer von hier, die bei uns zu ihrem eigenen Nachtheil Arbeit bestellten, hat unseren Nothruf zurückgepreßt. Aber leider sind jene Männer auch nicht immer imstande, uns mit Arbeit zu versehen, und da wir wegen Schwächlichkeit, Kränklichkeit und Alter für den Eisenbahnbau nicht tauglich erscheinen, so sehen wir mit den trübsten Blicken in die Zukunft und sehen nirgends auch nur einen Rettungsstern. Deswegen wenden wir uns vertrauensvoll an eine kgl. Regierung mit der Bitte, ob uns dieselbe nicht nur eine kleine Unterstützung, sondern auch eine Lieferung von Militärbaumwollentuch zukommen lassen wolle …“ Unterzeichnet ist diese Eingabe von den „treugehormsamsten armen Webern“ Christian Weidmann, Christoph Weidmann, Johann Feig, Johann Eyrich, Baptist Bauer, Johann Bunzmann, Christian Seuß, Johann Buchka, Johann Schönel, Johann Gack Christoph Hollerung, Christian Gack und Georg Harles. Nun hatte ein örtlicher Ausschuß zu prüfen, wer die Bedürftigsten seien. Die beiden Baumwollfabrikanten Joh. Friedr. Buchka und Joh. Kasp. Buchka erklärten sich am 19.3.1877 außerdem bereit, „Arbeiten zu Gunsten hiesiger Weber“ zu übernehmen.

Nach längeren Verhandlungen erhielten erstmals am 28.4.1877 14 arme Weber je 3 Pfund Bruchreis, 2 Laib Brot und 1 Pfund Schweinefleisch. Die gleiche Menge Lebensmittel kam nochmals 8 Tage später zur Verteilung. (1 Pfund Bruchreis kostete damals 20 Pfennige, 1 Pfund Schweinefleisch 60 Pfennige, 1 Laib Brot 50 Pfennige.) Am 12. und 19.5. gab es nochmals je zwei Laib Brot und 3 Pfund Bruchreis, am 16.5. je ½ Hektoliter Saatkartoffeln, am 23.6. je 4 Pfund Bruchreis und 2 Laib Brot, am 12.7.1877 je 10 Mark zur teilweisen Tilgung des Mietzinses und zum Ankauf von Viktualien.

Viele Weber hat es damals und auch in den folgenden Jahren gegeben, welche das Elend nicht mehr mitmachen wollten. Die in den Zeitungen aus jenen Jahren immer wiederkehrenden Anzeigen der großen Schiffahrtslinien des Norddeutschen Lloyd, von Hamburger und anderen Reedereien, daß sie Zwischendeckspassagiere nach Amerika schon für 120 Mark beförderten, zeigt, welchen Ausweg viele gewählt haben. Sie sind ausgewandert, nachdem sie Jahre hindurch, oft vielleicht schon ein ganzes Menschenalter lang, auf Besserung der Lebensmöglichkeiten im Heimatlande gewartet hatten. Sie verkauften Webstuhl und Häuschen und was sie noch hatten, um in das gelobte Land Armerika fahren zu können, weil die Heimat ihnen die allerbescheidenste Existenzmöglichkeit versagte.

Text: Dr. F. W. Singer, „Sechsämter Land“ Beilage der Sechsämter Neuesten Nachrichten, Jahrgang 7, Nummer 5, 30. Juni 1956

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